Leseprobe


Als Leseprobe stelle ich euch hier das erste Kapitel von "Evelyn Miller - Gesucht" online.
Viel Spaß beim Lesen!



1.



Ein schicksalhaftes Treffen

5 Jahre zuvor.


Abrupt aus einem Traum gerissen, wachte ich auf. Durch das offene Holzfenster am Fußende meines Bettes drang warme Luft und der Glockenklang der Kirche im Hof.
Ich hoffte, die Glocke würde nicht neun schlagen, denn dann käme ich zu spät zum Unterricht. Doch da sie nur siebenmal ihren tiefen, dumpfen Ton erklingen ließ, wusste ich, dass ich mir keine Sorgen machen brauchte. Ich hatte noch Zeit.
Mein Blick fiel auf das Bild meines besten Freundes John, welches auf meinem Nachttisch stand. 
Er lächelte darauf, wie er es immer getan hatte. Nie schien er traurig gewesen zu sein. Bis zu dem Tag, an dem er ging. An dem er einfach abgehauen war, ohne mir einen Grund dafür zu nennen. Ich war so wütend auf ihn, weil er mich einfach so verlassen hatte. Hier, im Waisenhaus, hatte ich außer ihm und meiner besten Freundin Nina niemanden, dem ich so vertraute, mit dem ich zu jeder Zeit über alles reden konnte. Ich vermisste ihn.
Seufzend sah ich zur Uhr. Eigentlich hätte ich noch eine halbe Stunde im Bett liegen bleiben können, doch ich würde jetzt sicher nicht mehr schlafen. Ich ging zum Fenster und obwohl es nicht kalt war, fröstelte ich. Dort unten auf dem Hof hatten wir immer zusammen gesessen und geredet. Auch hatte ich Nina und John oft dort unten sitzen sehen. Sie waren ein Paar gewesen, bevor er ging. Wenn er sich doch wenigstens melden würde, damit wir wussten, dass er lebte…
Ich machte mir große Sorgen um ihn. Er war doch auch nicht älter als ich und nun ganz allein da draußen, wahrscheinlich ohne Dach über dem Kopf und ohne eine warme Mahlzeit am Tag...
Dieser Gedanke ließ mir einen weiteren Schauer über den Rücken laufen und ich wollte das Fenster schließen, damit ich nicht weiter daran erinnert wurde. In diesem Moment landete ein Vogel auf dem Fensterstock.
Ich trat erschrocken einen Schritt zurück. Die Taube schien gar nicht scheu zu sein. Es sah so aus, als würde sie sich einfach nur von ihrem Flug erholen wollen. Die anderen Vögel, mit denen die Taube geflogen war, zogen weiter. Die Taube war alleine, doch sie war nicht so eingesperrt wie wir hier. Sie konnte fliegen, wohin sie wollte. Sie war frei.
Ich hörte, wie die Klinke der Zimmertür vorsichtig heruntergedrückt wurde, drehte mich um und blickte in das Gesicht von Nina, meiner besten Freundin und Zimmergenossin hier im Kinderheim. Sie war erst seit Kurzem hier, anders als ich. An meine Eltern konnte ich mich kaum erinnern, ich war 4 Jahre alt gewesen, als sie starben. Das war bereits 11 Jahre her...
"Hi Evelyn. Du bist schon wach?"
Ich lächelte und nickte.
"Ja, die Glocken haben mich geweckt."
"Oh. Mist. Ich hab vergessen, das Fenster zuzumachen." Schuldbewusst verzog sie ihr Gesicht.
"Macht nichts", winkte ich ab und sah, wie ihr Blick auf meinen Schreibtisch fiel. 
Sie schloss die Tür und schaute interessiert auf die Zeichnung, die ich heute Nacht angefertigt hatte. Es war ein Mädchen, oder eher schon eine junge Frau, die mir im Traum erschienen war. Als ich mitten in der Nacht wach wurde, ging sie mir nicht mehr aus dem Kopf und ich musste sie malen.
"Wer ist das?", fragte Nina.
"Ich weiß nicht. Ich habe von ihr geträumt und sie Emily Snow genannt. Schöner Name, nicht?“
Da doch keine spannende Story hinter der Zeichnung steckte, schien Nina das Interesse zu verlieren.
"Ja, klingt gut."
Dann lächelte sie mich an und blickte kurz auf das Bild von John, das auf ihrem Schreibtisch stand. Wir hatten das selbe Bild, doch sie hatte einen rosafarbenen, herzförmigen Rahmen darum. Ich hörte ihr betretenes Schlucken, als wieder aus dem Zimmer ging.
Mir war klar, wo sie nun hin wollte. In das Gemeinschaftszimmer, wo viele Leute waren, die Ablenkung brachten. Wie gerne hätte ich mit ihr darüber geredet, ihr und mir selbst damit geholfen, doch immer, wenn ich diesem Thema zu nahe kam, blockte sie vollständig ab. Wir waren beide alleine damit.
Ich wäre am liebsten abgehauen, abgehauen, wie John es getan hatte. Wäre frei gewesen und hätte die Probleme hier vergessen...
Mir kam die kleine Taube hinter mir auf dem Fensterbrett wieder in den Sinn und ich sah nach, ob sie noch da war.
Und das war sie. Obwohl es ihr augenscheinlich wieder besser ging, saß sie doch da und beobachtete mich.
Flieg doch, flieg, du kannst es. Genieße deine Freiheit, dachte ich. 
Und wünschte mir, dasselbe tun zu können.
Plötzlich begann ich am ganzen Körper zu zittern. Ich konnte nichts dagegen tun, alles kribbelte und meine Beine gaben unter mir nach. Ich fiel auf den Boden und alles um mich herum schien auf einmal größer zu werden… Oder ich wurde kleiner.
Ich schloss meine Augen und betete, dass ich nur träumte. Es war schrecklich, dass sich dieser "Traum" trotzdem so echt anfühlte, als wäre ich wach. Doch das hier konnte nicht wahr sein.
Durch meine geschlossenen Lider drang ein ungewöhnlich helles Licht, dann war alles vorbei. Ich bewegte mich nicht mehr, es kribbelte nicht mehr. Und trotzdem fühlte sich mein Körper extrem ungewohnt an.
Ich ließ die Augen geschlossen und bewegte mich. Meine Proportionen schienen nicht zu stimmen. Wie merkwürdig…
Lange lag ich da und hoffte, endlich aufzuwachen, dann überstieg meine Neugierde die Angst vor dem, was mein Unterbewusstsein mir da vorspielte. Ich öffnete langsam meine Augen und schaute auf meinen Körper herunter.
Doch das war nicht mein Körper, ich schaute auf den gefiederten Rumpf einer Taube herab. Ich schüttelte den Taubenkopf und hüpfte zum Spiegel, der im Traum genau dort war, wo er auch normalerweise im Zimmer stand.
Und da sah ich es: Ich war tatsächlich eine Taube.
Die andere Taube kam vom Fensterbrett zu mir auf den Boden und sah mich von oben bis unten genau an. Dann sah sie sehr zufrieden aus. Ich wusste nicht, woran ich das sah, aber ich wusste, dass es so war. Irgendwas sagte mir, dass sie sich so fühlte.
Sie öffnete ihren Schnabel und zwitscherte, doch ich verstand trotzdem, was sie "sagte".
"Hallo. Ich bin Moni. Wer bist du?"
Ich war perplex und belustigt zugleich. Träume von sprechenden Tieren hatte ich seit dem Grundschulalter nicht mehr gehabt. Ich probierte, ob ich in diesem Traum auch die Tiersprache beherrschte.
"Ich bin Evelyn Miller", zwitscherte ich.
"Hallo Evelyn. Das ist bestimmt deine erste Verwandlung, oder?"
Ich nickte und wunderte mich, dass ich wirklich mit der Taube reden konnte. Sonst redete ich nie mit Figuren aus meinen Träumen, ich beobachtete sie immer nur. Ich zweifelte etwas, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich nicht träumte. Es war nicht möglich… so etwas wie hier gab es nicht in Wirklichkeit.
"Soll ich dir zeigen, wie du dich zurückverwandeln kannst?"
Ungeduldig nickte ich weiter.
"Denke an deinen alten Körper und nehme jedes Körperteil wahr. Dann schließe die Augen und konzentriere dich."
Ich versuchte es. Beim ersten Versuch verlor ich die Konzentration, als das Kribbeln von vorhin wiederkam. Doch beim zweiten Versuch klappte es. Helles Licht umschloss mich, zwang mich, die Augen zu schließen, dann erlosch es und ich lag auf dem Boden. Schnell rappelte ich mich auf und tatsächlich - ich stand wieder als Mensch vorm Spiegel. Gespannt betrachtete ich mich, alles war wie vorher. Vielleicht durfte ich ja jetzt endlich wieder aus diesem merkwürdigen Traum aufwachen.
Die Taube Moni verwandelte sich vor meinen Augen auch zu einem Menschen. Das sah ich, nachdem sich meine Augen von dem grellen Licht, das wahrscheinlich bei jeder Verwandlung auftauchte, erholt hatten.
"So, jetzt wird es einfacher für dich sein, zu reden", meinte Moni.
"Was ist das denn für ein irrer Traum?" Ich wollte es nur denken, doch sprach es laut aus.
Moni legte ihren Kopf schief und sprach, "Das hier ist kein Traum. Das ist Realität."
Ich lachte laut auf. Das konnte nicht sein.
"Ja, klar. Und du bist ein Gestaltenwandler."
"Ganz genau", bestätigte sie, "Und wenn du denkst, du träumst, dann zwick dich doch."
Ich lachte und winkte der Traumgestalt Moni zum Abschied, bevor ich mich zwickte. Dann tat ich es noch mal.
Als ich die menschliche Taube immer noch sah, fing ich an, auf meinen Arm zu schlagen, bis er rot war. Nichts geschah. Doch ich spürte den Schmerz, als wäre er echt.
Ich ging zum Schrank und schlug dagegen, dann zog ich meine Faust schnell zurück und verzog mein Gesicht. Ich verlor meinen Glauben daran, dass alles nur ein Traum war.
"Hey, hör auf, dein Zimmer zu demolieren!", rief die Gestaltwandlerin, die zu meinem Grauen immer noch da war.
"Ich schlafe! Ich träume! Das hier ist nicht echt." Ich versuchte, mich selbst davon zu überzeugen.
Doch ich musste es einsehen. Ich schlief nicht. Ich war vorhin durch die Glocken aufgewacht. Nina war im Zimmer gewesen und alles, was danach passierte, war wirklich passiert. Ich war eine Taube gewesen. Ich war ein Gestaltenwandler. Dieser Albtraum war kein Traum, er war Realität.
Ich sank auf dem Boden zusammen und knallte hart mit dem Kopf an den Schrank. Es war mir egal.
Moni kniete sich vor mich. Sie machte sich ernsthaft Sorgen.
"Ich muss dir helfen, zurecht zu kommen, denn du hast viel zu lernen. Das hier ist dein fester Wohnsitz?"
"Ja, klar", antwortete ich verwirrt.
"Wann hast du Zeit?", fragte Moni.
Was für eine komische Frage. Ich hatte immer Zeit, ich war ja halb Mensch, halb Taube… Ich schaute Moni hilflos an.
"Na du hast doch sicher Schule, oder? Du musst dein normales Leben weiterleben, bis ich dich hier raus geholt habe, Evelyn.“
"Dann heute Nachmittag?", schlug ich vor.
Auch wenn ich mich noch nicht damit abgefunden hatte, noch nicht einmal damit angefangen hatte, wollte ich schnell alles herausfinden. Vielleicht gab es ja einen Weg, das Ganze wieder rückgängig zu machen. Ich hoffte es so sehr.
"Okay, Evelyn. Aber hör mir bitte zu, das ist wichtig: Es ist geheim. Also bitte, rede mit niemandem darüber, was gerade passiert ist. Ich muss jetzt weg, okay? Bis dann."
Kurz noch ruhte ihr besorgter Blick auf mir, dann verwandelte sie sich wieder in ihre Taubengestalt und flog zum Fenster heraus. Ich war wieder alleine.
Das Gefühl der Hilflosigkeit übermannte mich; ich sprang auf, hechtete zum Fenster und lehnte mich über den Fensterstock, um sie vielleicht noch zurückrufen zu können. Doch die Taube, die mehr über mich wusste, als ich selbst, die meine letzte Rettung war, war verschwunden.
Ich erschrak, als Nina ins Zimmer kam. Sie ahnte nicht, was hier passiert war und es war nur gut für sie. Ich wusste nicht, ob sie damit umgehen könnte. Ich selbst wusste nicht, wie ich das schaffen sollte.
"Evelyn, auf was wartest du?"
"Oh, tut mir leid, Nina. Ich hab die Zeit vergessen." 
Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, obwohl es schwer fiel. Normalerweise teilte ich jedes Geheimnis mit Nina, doch ich ahnte, dass es so besser war. Ich wollte sie in nichts hereinziehen, was mir selbst nicht geheuer war.
Der Unterricht verlief schleppend, zog an mir vorbei, ohne dass ich auch nur ein Wort von dem, was gesagt wurde, begriff. Es war, als wäre ich nur ein Zuschauer, gefangen in meinem Kopf, der nur über eins nachdachte.
Ich schickte Nina mit Freunden weg, sagte, ich wollte alleine sein. Das verstand sie. Sie verstand in letzter Zeit immer, wenn ich alleine sein wollte, doch nie, wenn ich sie brauchte. Ich wusste, dass sie mir helfen wollte, aber sie konnte es nicht. Noch nicht, sagte ich mir immer wieder, und dass unsere Freundschaft irgendwann wieder normal werden würde.
Im Zimmer stand ich am geöffneten Fenster und wartete, wartete auf die Taube, die mir mein restliches Leben erklären sollte. Warum ich so war, wie ich wieder normal werden konnte. Ich setzte meine ganze Hoffnung in sie, wartete ungeduldig. Warum hatten wir keine genaue Zeit ausgemacht? Das Warten brachte mich fast um.
Keine Taube, kein einziges Wesen kam durch das Fenster. Ich setzte mich resigniert auf den Stuhl an meinen Schreibtisch. Hatte ich mir alles nur eingebildet? Ein Tagtraum? Das wäre doch eigentlich möglich, als ich ein kleines Kind war, hatten meine Erzieher mich immer meiner blühenden Fantasie wegen gelobt...
Ich hörte Monis Stimme draußen auf dem Flur und meine letzte Hoffnung schwand.
Die Tür ging auf und unsere Betreuerin, Anita Garden, kam herein. Hinter ihr stand Moni. Die beiden Frauen waren aufgeregt. Ich fragte mich, warum Moni es war. Erwartete sie, dass ich mich aus dem Staub gemacht hatte? Oder nicht mehr mit ihr sprechen wollte? Den ganzen Quatsch einfach nicht glaubte? Ich wusste es nicht und würde sie auch nicht fragen, wunderte mich sowieso, warum ich ihre Verfassung so gut einschätzen konnte.
"Evelyn, hier ist jemand, der dich besuchen will", kündigte Mrs. Garden an.
Dann sagte Moni etwas, das mich verwunderte.
"Ach, meine kleine Nichte. Es tut mir leid, dass ich keine Zeit für dich habe, Evelyn, aber hier geht es dir doch auch gut, oder?" Sie zwinkerte mir zu.
Ich fragte mich, was das sollte, aber sie sah mich nun so eindringlich an, dass ich mitspielte.
"Tante Moni", antwortete ich etwas skeptisch, "Schön, dass du mich besuchen kommst."
Ich freute mich ja wirklich, dass sie hier aufgetaucht war, deshalb klang es halbwegs authentisch.
Inzwischen war Mrs. Garden zum Fenster gegangen und machte es nun zu. Dann verschränkte sie ihre Arme, als friere sie und fragte mich vorwurfsvoll, "Wieso hast du in letzter Zeit so oft das Fenster auf?"
"Es ist Frühling. Ich liebe es, die Vögel singen zu hören."
Ich brauchte einen Moment, um das Grinsen von Moni als Reaktion auf meinen Satz zu verstehen, dann lächelte ich auch. Das erste Zeichen dafür, dass ich langsam aus meiner Hilflosigkeit auftauchte. Ich war jetzt wenigstens nicht mehr mit diesem Problem alleine, Moni würde mir helfen. Ganz sicher.
"Na gut. Mrs. Miller, wollen sie einen Spaziergang mit Evelyn machen?"
Meine Betreuerin ahnte das, was Moni mit mir vorhatte, nicht im Geringsten.
Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie reagierte, wenn sie es erfuhr. Falls sie es erfuhr.
"Sehr gerne, danke", stimmte Moni zu. 
Ich nahm meine Jacke und ging mit ihr mit.


Hat es euch gefallen?
Da die Wartezeit bis zur Veröffentlichung ja noch sehr lang ist, werde ich euch immer mal wieder im Blog ein paar Lesehäppchen anbieten :)
Bis dahin...! :)

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